Projekt Vjosa

 

Text: Stephan Mayer

Fotos: Stephan Mayer, Dietmar Schachtner, Manfred Reissner

 

 

Die Wolken hängen tief im Tal. Ich sitze in meinem Kajak und paddle, um warm zu werden. Alles ist klamm, feucht und kalt. Die vergangene Nacht hat es durchgeregnet und wir mussten unsere Zelte nass einpacken. Ich bin froh, den dicken Paddelpullover und die  Neoprenhose mitgenommen zu haben. Später als sich die Wolken etwas lichten, wird der Blick frei auf die fast 2.000m hohe Bergketten, die die Vjosa flankieren. Es hatte tatsächlich bis auf gut 1.500 m runter geschneit. So hatte ich mir das Projekt Vjosa wirklich nicht vorgestellt.

 Aber stopp, von Anfang an.

 

Eines Tages kam die Frage von Jürgen, unserem dienstältesten Paddler: „Wer hat Lust, Anfang Mai die Vjosa in Albanien zu paddeln? Über 200 Kilometer ohne künstliche Verbauung, so wie der Tagliamento, aber doppelt so lang und viel einsamer.“ Erstaune Blicke, aber nach kurzer Internetrecherche war das Quorum einstimmig, das Projekt Vjosa war geboren.

 

Die Vjosa ist einer der letzten lebendigen und frei fließenden Wildflüsse Europas. Die ersten 80 Kilometer fließt der Fluss durch Griechenland, wo er Aoos genannt wird. In Albanien wird er zur Vjosa. Im gesamten Flussverlauf von über 270 Kilometern fließt sie ungezähmt und frei.  An manchen Stellen ist das Flussbett mehr als fünf Kilometer breit und bildet mit Inseln, vielen Seitenarmen und weitläufigen Mäander einen ursprünglichen und ungezähmten Flussverlauf. Dann wieder wird der Fluss durch wunderschöne Schluchten und konglomeratartige Niederklammen gepresst. In diesen Bereichen ist auch mit Wildwasser II+ zu rechnen. Das Tal wird beidseitig von einsamen Gebirgsketten mit bis zu 2.000 Meter Höhe eingerahmt. Keine Städte, nur kleine Dörfer liegen verstreut im Tal. Wenige Straßenbrücken queren den Fluss, dafür gibt es umso mehr Hängebrücken für Fußgänger und Esel.

 

 

Die Vjosa ist einer der letzten nahezu unerforschten Flüsse in Europa. Sie bietet mit ihren Zuflüssen ein dynamisches, naturnahes Ökosystem, das in ganze Europa seines gleichen sucht. Deshalb wird sie auch das blaue Wunder des Balkans genannt.

 

 

Die Logistik, den für Wanderboote ersten möglichen Einsatzpunkt in der Ortschaft Konica in Griechenland zu erreichen, erscheint uns ziemlich einfach. Mit dem VW-Bus runter nach Brindisi, die Fähre nach Igumenitca und dann noch 150 Kilometer durch das nördliche Pindosgebirge und schon kann das Abenteuer beginnen.

Die ersten zwei Tage auf der Vjosa waren durchaus abwechslungs- und erlebnisreich. Gleich am ersten Nachmittag auf dem Fluss überraschte uns ein Gewitter mit einem sintflutartigen Regenguss. Mit dem dichten Uferbewuchs fühlte ich mich eher auf einem Urwaldfluss, als auf dem Balkan. Das Camp abends, so wie man es sich vorstellt: Sandstrand, Lagerfeuerholz bis zum Abwinken und ein blank geputzter Sternenhimmel über uns; so soll es sein. Am darauf folgenden Tag wechselte die Vjosa mehrmals ihr Gesicht. In Schwällen und Niederklammen wurde uns auf Grund des guten Wasserstandes munteres Wildwasser im guten zweiten Schwierigkeitsgrad geboten und mit den schwer beladenen Tourenkajaks durchaus ein Herausforderung. Dann aber wieder offene Kiesbänke mit einem weit verzweigten Bachbett.

Jetzt am dritten Tag, sitze ich im Kajak, die Wolken werden tatsächlich etwas lichter, es kommt die Sonne durch, nur der Wind pfeift mir noch so kalt ins Gesicht, dass ich froh um meine Kapuze an der Paddeljacke bin. Mittags, in dem kleinen Ort Memaliaj erleben wir das Organisationstalent des Balkans in vollen Zügen. Die einzige Kneipe ist nicht auf Touristen eingestellt, schon gleich nicht in dieser Jahreszeit. Mit Händen und Füßen tun wir unsere Wünsche nach Speis und Trank kund. Ein etwas ratloser Blick, aber dann werden die Stammgäste mit Bargeld bestückt und nach fünf Minuten kommt der erste mit frischem Brot, der nächste hat einem Kanister Wein auf dem Fahrrad, der dritte bringt Fleisch und die Oma holt frischen Salat aus dem Garten. Binnen einer halben Stunde wird uns ein Mahl aufgetischt, mit einer Freundlichkeit, einer Ehrlichkeit und so gut, dass wir uns alle Finger danach abschlecken. Der obligatorische Raki, vor allem die Mengeneinheit lässt uns beflügelt zu den Kajaks zurück wanken. Welch ein Fest wurde uns hier mit einfachen Mitteln geboten.

Wir sind mittlerweile im mittleren Teil der Vjosa angekommen, das Wildwasser lässt nach und wir haben Zeit, die beeindruckende Landschaft zu genießen. Wie eine Zeitreise wirkt ein Ausflug an Land. Kleine Dörfer wie aus vergangenen Zeiten schmiegen sich in die ursprüngliche Landschaft. Eselskarren sind für Einheimische selbstverständliches Transportmittel. Stolze Schafhirten schützen ihre Herden gegen Bären und Wölfe. Die wenigen Reisenden kommen auch hier in den Genuss einer berührenden Gastfreundschaft – Rakija inklusive. Ablehnen ist unmöglich. Doch anstatt diesen Schatz den sehnsüchtigen und zahlungskräftigen Freizeit-Abenteurern aus Mitteleuropa zugänglich zu machen, plant man allein an der Vjosa acht Dämme. Das größte Projekt, der Staudamm bei  Kalivaç, liegt zum Glück auf Eis, aber zig andere Projekte zur Stromgewinnung an den umliegenden Flüssen und an der Vjosa selber liegen in den Schubladen der Technokraten ganz oben auf.

Die Vjosa wird nun zum Tieflandfluss mit breitem Schottertal, in dem sie sich verzweigt und ausgiebig mäandriert. Im Land jenseits der Ufer wird intensiv Ackerbau betrieben. In der Ortschaft Fitore, kurz vor der Mündung in das Meer kommen wir gerade richtig zu einem Wochenmarkt. Obst, Gemüse, Oliven und Käse, aber auch Bekleidung, Werkzeug und sogar Sättel für Esel werden in einem balkantypischen Durcheinander angeboten. Wir lassen uns an einem Suflaki-Stand nieder und genießen das Marktgetümmel.

Die letzten Kilometer zum Meer bläst uns schon ein kräftiger Wind ins Gesicht. An der Mündung der Vjosa bilden sich beeindruckende stehende Wellen und uns wird schnell klar, heute haben wir keinen Auftrag, unser gestecktes Ziel Vlora noch zu erreichen. Wir schlagen unser Camp in einem kleinen windgeschützten Wäldchen auf und hoffen auf Wetterbesserung.

 

 

Leider sind uns an der Küste nur noch zwei schöne Tage zum Paddeln vergönnt. Dann zwingt uns eine Schlechtwetterfront von Süden kommend zu einem vorzeitigen Ende unserer Reise. Per Autostopp holen wir unser Auto und treten über Igoumenitsa die Heimreise an. Zu schnell sind die Tage am Fluss und in den Kajaks vergangen.

 

Es war ein wildes Abenteuer ganz nach unserem Geschmack, nichts war geplant, alles wurde erfüllt und wir hatten jeden Tag ein Lagerfeuer!